Fabrice Müller - Wut, wieder einmal nicht den Mut gehabt zu haben, zum Stottern zu stehen!
Reflexionen über den Umgang mit dem Stottern
Mittwochmorgen im Februar. Ans Stottern denke ich nicht. Zuviel steht heute auf dem Programm. Ein Telefoninterview um neun. Eines um zehn. Dazwischen E-Mails schreiben, Informationen sortieren, Unterlagen per Telefon anfordern. Nachher Artikel schreiben. Doch schon beim ersten Telefongespräch ist es wieder da, das Stottergefühl. Viel früher als erwartet, macht sich jenes Unbehagen bemerkbar, das ich so gerne einfach unter den Tisch wischen - oder noch lieber im Schlaf verlieren würde. Einfach so. Doch daraus wird nichts. Ich bin wieder mitten drin. Ein "P" hat mich aus der Bahn geworfen. Instinktiv stelle ich den Satz um - eine Technik, in der ich wahrlich einen Schweizermeister- wenn nicht sogar Weltmeistertitel verdient hätte. Doch darauf kann ich gut verzichten. Denn der nächste Holperer kommt schneller, als befürchtet. Eigentlich wollte ich den Fragesatz mit einem "Gibt es.." anfangen; doch der "G" - so melden mir meine Gefühlsboten in Sekundenbruchteilen vor der geplanten Aussprache - macht ebenfalls Probleme. Also beginne ich den Satz einfach anders, man ist ja flexibel, und zwischen "Gibt es.." und "hat es..." besteht von der Bedeutung her praktisch kein wesentlicher Unterschied. Das Telefoninterview nimmt weiter seinen Lauf. Ich bewege ich zwischen Hochs und Tiefs, auf holprigen Strassen und flachen Autobahnen. Zurück bleibt ein Gefühl des Versagens. - Und der Wut. Wut auf mich. Wut, wieder einmal nicht den Mut gehabt zu haben, zum Stottern zu stehen und einige Sätze nicht so zu Ende gesprochen zu haben, wie es eigentlich geplant war. Warum habe ich nicht locker gesto-to-totert? Warum habe ich nicht plö-lötzlich gesagt, warum nicht gi-gibt? Ich kann es ja!
Ich suche nach Antworten. Weshalb versetze ich mich lieber in Stresssituationen, anstatt den einfacheren Weg zu wählen, das heisst: zum Stottern zu stehen und mich dadurch vor Blockaden, Satzumstellungen innert Hundertstelsekunden und unsinnigen Füllwörtern wie äh oder also im Satz zu bewahren? Weshalb verstecke ich mich hinter der Fassade eines vermeintlichen Nichtstotteres? Ich weiss es nicht, bin ich versucht, zu antworten. Doch ich vermute, es doch zu wissen. Stottern gilt in der Gesellschaft als Zeichen von Schwäche, als Sprachbehinderung, wie sie beim Dorftrotteln und anderen beschränkten Gestalten in zahlreichen Filmen vorkommen. Zu tief sitzt wohl noch dieses Klischee. Und noch immer schlummert der Wunsch in mir, dieses Bild ja nicht zuzulassen. Obwohl ich, obwohl wir ja alle wissen, dass dieses Klischee nicht stimmt. Genies wie Einstein, Politiker wie Churchill und Stars wie Madonna oder Prince zählen bzw. zählten zu den Stotterern, zu den ein Prozent der Bevölkerung, die davon betroffen sind. Stotterer zeichnen sich durch ein besonders ausgeprägtes Sprachgefühl aus, sagt man. Solche Tatsachen sind für uns Stotterer wie Balsam.
Trotzdem fällt es keinem leicht, sich zu outen, wie man auf Neudeutsch so schön sagt. Meiner Freundin habe ich es vor etwa einem Jahr gesagt, seit sieben Jahre kenne ich sie...!!! Mit meinen Eltern sprach ich seit längeren nicht mehr darüber. Seit einigen Monaten ist es hin und wieder ein Thema. Meine Mutter stottert auch, doch darüber haben wir noch nie gesprochen. Irgendwann - so habe ich mir vorgenommen - möchte ich sie darauf ansprechen. Irgendwann. Auf meiner Internetseite www.journalistenbuero.ch oute ich mich als Stotterer. Bei Freunden und Kollegen habe ich es bis jetzt noch nicht ganz offiziell gewagt. Ab und zu wage ich ein lockeres Stottern. Das kommt aber immer noch zu selten vor. Geduld ist angesagt. Was ich mir während 20 Jahren angeeignet habe, lässt sich einfach nicht innert kurzer Zeit wegblasen. Weder durch Wunderheiler, noch durch sonst ein Mittel. Obwohl ich es manchmal gerne wollte. Das Stottern ist ein Teil von mir. Nur ich kann bestimmen, wie und wann es auftritt. Nur ich. Ich bin auf dem Weg, den ich Schritt für Schritt meistere. Die Schritte sind klein. Vor drei Jahren wäre es mir wohl nicht in den Sinn gekommen, so offen über mein Stottern zu sprechen. Stottern war kein Thema. Heute ist es eins.
Fabrice Müller
Infos zum Stottern: www.stokokoe.ch