Pascale Bruderer Wyss

Seit dem 15. April 2002 steht sie (als damals jüngste Nationalrätin (25 J.)) auf dem schweizerischen Politparkett; Pascale Bruderer,  motiviert, engagiert, energiegeladen - und erfolgreich. 2010 übernimmt sie das Nationalratspräsidium - wiederum als jüngste Politikerin in dieser Funktion - und ist somit höchste Schweizerin. Wir wünschen ihr viel Enthusisamus und Erfolg!

Ihre politischen Ziele sind nicht abgehoben, weltfremd - das ist das Sympathische an der Powerfrau.

Pascale Bruderer ist auch in unserem Schulhaus keine Unbekannte, hat sie sich doch gerne im Schulzimmer wie im Bundeshaus zur Verfügung gestellt, den Jugendlichen engagiert die Politik näher zu bringen.

Wir publizieren hier ein exklusives Interview aus dem Jahre 2002  zum Thema der Gleichstellung Behinderter.

Einen wichtigen Teil meines persönlichen Umfeldes bilden gehörlose und schwerhörige Menschen

Zur Situation der Behinderten meint Pascale Bruderer: "Heikel, ja fast grotesk ist ja, dass in Sachen Gleichstellung kaum Kompromisse möglich sind. Man kann nicht ein bisschen gleichstellen, sondern nur ganz und gar."


 

Am 2.12.01 haben Sie im Schweizer Radio DRS 1 eine Novität eingeführt; auf Ihren Wunsch hin wurde die Talkshow "Persönlich" in die Gebärdensprache übersetzt. Werden künftig alle öffentlichen Auftritte mit Pascale B. gebärdet?

Die Tatsache, dass das "Persönlich" auf Radio DRS 1 jeweils öffentlich in einem Café stattfindet und live aufgenommen wird, macht meiner Ansicht nach den Charme dieser Sendung aus. Und sie eröffnet auch anderweitige Möglichkeiten:

Als ich ins "Persönlich" eingeladen wurde, wollte ich meinen hörbehinderten Verwandten und Bekannten - welche logischerweise mit Radio nicht sehr viel am Hut haben - die einmalige Chance ermöglichen, sozusagen "Radio für Gehörlose" zu erleben. Ich lud sie samt Dolmetscherin ein, es war für alle Anwesenden eine neue, bereichernde Situation. Eigentlich keine bahnbrechende Idee, sondern lediglich eine praktische Verbindung zweier Welten, die sich leider im Alltag fremd bleiben.
Behinderte sollen möglichst barrierenfreien Zugang zu dem haben, was auch unsere Lebensqualität ausmacht; das ist mir generell ein grosses Anliegen.

Meine persönlichen Auftritte richte ich nach den Bedürfnissen des Publikums. Diese Woche organisierte bsw. die Stiftung Treffpunkt für Gehörlose in Zürich einen Informationsabend zur UNO, anlässlich welchem ich selber gebärdend Auskunft erteilte und dabei von einer Dolmetscherin unterstützt wurde. Die Vereinfachung der Informationsbeschaffung ist ein ganz wichtiger Punkt, für den es sich lohnt, sich einzusetzen. Das geht vom Übersetzen an einzelnen Veranstaltungen über Erleichterungen an Universitäten bis hin zur Untertitelung der Nachrichten-, Konsumenten- und anderer TV-Sendungen.

Aber das Angebot wird auch hier durch die Nachfrage geregelt, und Nachfrage heisst in diesem Zusammenhang für die Behinderten: Auf sich aufmerksam machen, die Folgen ihrer Behinderung an die Öffentlichkeit tragen, möglichst effektive und effiziente Vorschläge zur Verbesserung der Situation einbringen.

Das ist leichter gesagt als getan, die Lobby der Behinderten lässt sich nicht mit jener vieler anderer Interessensgruppen vergleichen. Ausserdem geht die Sensibilisierung der Bevölkerung nur langsam, aber - da bin ich optimistisch - bestimmt auch stetig vonstatten.

Ach ja, übrigens sassen auch anlässlich meiner Vereidigung im Nationalrat am 15. April 2002 Hörbehinderte auf der Tribüne - mitsamt Dolmetscherin.



Inwiefern spielen hörbehinderte Familienmitglieder eine Rolle für Ihre sozialpolitische Arbeit?

Es waren nicht ein spezifisches Thema, ein Vorfall oder eine Bewegung, die mich politisiert hat. Der Wunsch, mein Umfeld mitzugestalten, unsere Zukunft mitzuplanen, Ungerechtigkeiten auszubügeln, hat mich in die Politik getrieben. Das ist einerseits ziemlich unspektakulär, andererseits aber auch eine Art Garant dafür, dass mir der politische Stoff so schnell nicht ausgehen wird. Denn währenddem gewisse Themen plötzlich von der Bildfläche verschwinden können, steht unser Umfeld - im grösseren Sinne - nie still noch erübrigt es sich, dieses zu beobachten, zu verbessern.

Einen wichtigen Teil meines persönlichen Umfeldes bilden gehörlose und schwerhörige Menschen. Die Brüder meiner Mutter, mit denen wir seit jeher einen engen Kontakt pflegen, sind hörbehindert.
Später, nach der Matura, habe ich übrigens auch ein Jahr in einer Schwerhörigenschule gearbeitet, als Praktikantin im Internat.

Die Gehörlosen leben zu grossen Teilen in ihrer eigenen Welt, haben ihre Gemeinschaften, leben ihre eigene Kultur.

              In diesem Kreise bin ich unter anderem aufgewachsen; die Schwierigkeiten und Hürden im Leben Hörbehinderter habe ich also schon als kleines Kind wahrgenommen, mit der Zeit verstanden und hinterfragt. Das hat meinen sozialen Umgang sowie mein politisches Wesen geprägt und auch inspiriert.Es waren nicht nur die Nachteile dieser Behinderung, die mir auffielen. Ich durfte auch das Wundervolle, Faszinierende, Spezielle an dieser Gehörlosenkultur erleben: Da tun sich ganz unterschiedliche Leute - allerdings mit einer Gemeinsamkeit - zusammen und bilden sozusagen ein Dorf für sich, kommunizieren in einer eigenen Sprache, legen sich selbständig ihre eigenen Strukturen zurecht legen.

Auch wenn ich mit einem Bein oder einer Zehe in der soeben beschriebenen Welt stehe, so lebe ich doch vor allem im Alltag der gesunden, nicht behinderten Menschen. Und diese Verbindung spornt mein Engagement im Bereich der Behindertenpolitik an.

Der Handlungsbedarf ist gross! Es braucht einerseits eine Öffnung der Hörbehinderten gegenüber Hörenden; es braucht andererseits das Sichtbar- und Bekanntmachen an sich unsichtbaren Behinderung in der Öffentlichkeit dieser. So gehen die Hemmungen im Umgang mit Hörbehinderten verloren, so werden Barrieren im Alltag erkannt, so können die negativen Konsequenzen der Behinderung gemeinsam bewältigt werden.

Besuch(t)en Sie Diskotheken?

Mit den Lautstärken an Parties wird oft übertrieben, die Grenzwerte werden kaum berücksichtigt. Aber wie in so vielen anderen Fällen, machen sich die Schäden auch hier nicht unmittelbar - sondern erst nach Jahren erkennbar... die Folge ist unvernünftiges, ungesundes Verhalten. Aber ehrlich gesagt, gehöre ich zu jenen allzu sorglosen Konzertbesucherinnen, die sich die Ohren eher bei einem am Bahnhof einfahrenden, laut quietschenden Zug zuhalten anstatt sich im Ausgang präventiv mit Oropax o.Ä. zu schützen..

 

Wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte als Nationalrätin?

Einer meiner thematischen Schwerpunkte als Nationalrätin ist bestimmt die Sozial- und so auch die Behindertenpolitik. Dank meinem Background, der Erfahrung im Umgang mit Hörbehinderten, gehe ich auch ungezwungen und natürlich mit anderweitig Behinderten um und verfüge über das Sensorium für deren Anliegen. Dies sind bestimmt ideale Voraussetzungen für eine Lobbyarbeit für Behinderte; nicht zuletzt, weil ich wie oben erwähnt in beiden "Welten" zu Hause bin, gut und gerne vermitteln kann.

Konkrete Massnahmen, den Handlungsbedarf habe ich oben bereits geschildert; es ist nicht zu vergessen, dass hierbei beide "Welten" gefordert sind und ein kleines Stückchen umdenken müssen. Das langfristige, übergeordnete Ziel ist die Vereinigung dieser beiden Welten, ist die totale Gleichstellung.

Eigentlich dürfte dies keine Frage des politischen Willens sein, denn es ist ein verfassungsmässiger Auftrag, allen Bürgerinnen und Bürgern die gleichen Rechte zu gewähren.

Meine Forderungen oben deckten sich mit den Zielen der Gleichstellungsinitiative. Heikel, ja fast grotesk ist ja, dass in Sachen Gleichstellung kaum Kompromisse möglich sind. Man kann nicht ein bisschen gleichstellen, sondern nur ganz und gar. Wenn in gewissen Bereichen keine Fortschritte erzielt werden, schadet und schwächt dies auch jene Massnahmen, die bereits umgesetzt wurden.

Auch wenn es in diesem Anliegen nicht nur um das Geld gehen darf, so ist es dennoch ungeheuer wichtig, die finanziellen Auswirkungen zu thematisieren und die diesbezügliche Angst zu beseitigen. Es gilt, aufzuzeigen, dass es den Staat, die Gesellschaft günstiger kommt, den Behinderten Selbständigkeit im Alltag zu ermöglichen.

 

Hatten Sie als Kind spezielle Erlebnisse im Zusammenhang mit Behinderungen?

Lustigerweise faszinierte mich die Gebärdensprache anscheinend bereits als kleines Mädchen so stark, dass mir das Erlernen dieses "Fingerspiels" wichtiger schien als die gesprochene Sprache. Lange verhielt ich mich stumm, äusserte mich bloss in Gestik und Mimik. Mehrmals wurde mein Gehör untersucht, da meine Eltern ernsthaft an dessen Funktionsfähigkeit zweifelten; immer wieder wurde bestätigt, es sei alles ok, ausser dass die Lust am Gebärden offensichtlich grösser als jene am Sprechen sei. Mit der Zeit hat sich dies dann gelegt...

Ich erinnere mich an die Zeit, da samstags "Sehen statt Hören" im Fernsehen gesendet wurde. Manchmal machten sich Schulkameraden über den Moderatoren, dessen monotone Stimme und merkwürdige Bewegungen lustig. Natürlich verstummten die Witzeleien jeweils, sobald ich dazu kam. Nicht nur, weil sie vor mir geheim gehalten werden sollten, sondern auch - dies ist jedenfalls mein Gefühl - auch aus einem Schamgefühl, einer Unbeholfenheit heraus. Mich verletzten diese Situationen eigentlich nicht wirklich, sie verärgerten mich höchstens; entsprechend heftig reagierte ich manchmal. Ich erklärte, die Gehörlosen hörten sich selber nicht, weshalb sie ihre Stimme auch weniger kontrollieren könnten als wir. Die Schulfreunde schienen fasziniert und fragten mich nach vielen Gebärden und nach ihrem Namen in Gebärdensprache, u.s.w.. Eigentlich erfüllte es mich auch mit Stolz, den anderen etwas zu erklären, was ihnen so fremd war und mir so vertraut, so normal erschien.

Die Sprüche nahmen übrigens nicht ab; aber es waren keine spöttischen Bemerkungen, sondern allermeistens Beobachtungen komischer Bewegungen, über die auch ich lachen konnte.

Hörbehinderte sind nicht etwa unbeholfen; im Gegenteil können sie ihr Handicap auch gut und gerne bei Gelegenheit zu einer Waffe umfunktionieren!

So z.B. hin und wieder geschehen im "Landenhof", wo ich ein einjähriges Praktikum absolviert habe: Wenn die Kinder in die Phase des Verweigerns und "Trötzeln" kamen, eine Aufforderung unsererseits schlichtwegs nicht mehr hören konnten, stellten sie kurzerhand und mit einem sehr süffisanten Lächeln auf der Lippe das Hörgerät aus. Nach dem Motto: "Sorry, ich höre nicht. Du kannst es noch tausendmal wiederholen, ich verstehe eh nichts."


Vielen Dank, Pascale, für dieses Gespräch - und von Herzen viel Ausdauer und Spass am Politisieren .... und natürlich ganz tollen Erfolg!