Von grossen Zehen und Schamanen
Es war an einem Mittwoch, kurz vor zehn Uhr abends. Die Gebetsversammlung in unserer kleinen Kirche war zu Ende, und die acht Teilnehmer machten sich auf den Heimweg. Mein Weg führte mich den Berghang hinab, wo ein Stück über dem Krankenhaus unser Haus lag. Ein paar hundert Meter zog sich der Wad den steil abfallenden Grat entlang. In dem milchigen Mondlicht schienen die rechts und links tief eingeschnittenen Täler unwirklich weit entfernt. Hinter ihnen die weißen Gipfel der Achttausender, die wie Silberzapfen am Himmel hingen. An solch einem Abend konnte man gut ohne Taschenlampe laufen.
Da war der alte Musterbauernhof der Mission, dessen Gebäude unsicher an dem Steilhang klebten. Seit die nepalische Regierung ihn im vergangenen Jahr gestossen hatte, war es still und leer geworden dort. Als ich an den Lagerschuppen am unteren Ende der Farm vorbeiging, hörte ich etwas, das wie ein langgezogenes Stöhnen klang. Es war zu deutlich, um der Wind zu sein. Da war es wieder, diesmal lauter. Und dann noch lauter, bis es ein Schrei wurde, wie von einem wilden Tier. Ich wußte, daß früher Leoparden und Schakale gerne den Hühnerställen einen Besuch abgestattet hatten, aber die Farm hatte keine Hühner mehr. Es gab kaum etwas in den verlassenen Gebäuden, was die Räuber hätte anlocken können. Da kam der Schrei wieder. Ich hielt an und horchte. Es war eine menschliche Stimme, die immer wieder die gleichen Worte wiederholte: »Hari Ram, Hari Ram, Hari Ram. «
Ich ging zu dem Schuppen, aus dem die Stimme kam, und spähte durch die angelehnte Tür. In dem Schuppen stand ein Tisch, und auf dem Tisch lag ein Mann, der das eine Knie mit beiden Händen umklammert hielt, die Beine fest angezogen hatte und seitwärts hin- und herschaukelte. Auf einem Schemel neben ihm brannten zwei Räucherstäbchen. Die Luft in dem Raum war süßlich-modrig,
es roch wie nach verwestem Heisch. Mein Ellenbogen schabte gegen die Türöffnung, und ein Brocken des Lehmputzes fiel mit leisem Poltern zu Boden. Der Mann auf dem Tisch richtete sich abrupt auf und zündete mit einem Streichholz eine kleine Petroleumlampe an.
»Was willst du?« fragte er. »Ich bin der Doktor«, sagte ich. »Vom Krankenhaus.« »So. Dich kenne ich.« Das »Dich« klang boshaft betont. »Dich brauche ich nicht. Was willst du hier?«
Die Luft in dem Schuppen war rauchgeschwängert. Auf dem Schemel neben den Räucherstäbchen stand eine Opferschale mit rotem Pulver, ungekochtem Reis und verschiedenen anderen Körnern. Auf dem Lehmfußboden erinnerten frisches Blut und ein paar Federn an ein kürzlich geschlachtetes Huhn.
Ich kannte den Mann auf dem TISch nur flüchtig. Es war Gopal Adhikari, ein früheres Mitglied des Panchayat (Dorfrates), der schon bessere Zeiten erlebt hatte. Man erzählte sich, daß er den Großteil seines Landes verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen, und jetzt nur noch mit Mühe seine Frau und die fünf Kinder ernähren konnte.
Der für die Farm zuständige staatliche Landwirtschaftsbeamte hatte ihn gegen ein mageres Entgelt als Nachtwächter für die Gebäude eingestellt. Aber wie kam es, daß er jetzt hier im Dunkeln herumlag und vor Schmerzen stöhnte?
»Was ist passiert?« fragte ich, sein offensichtliches Mißfallen an meinem Auftauchen höflich überhörend. Er sagte nichts, sondern streckte vorsichtig das Bein aus, das er umklammert hatte. Um den großen Zeh war ein schmutziger Lappen gewickelt. »Was ist denn da drunter?« fragte ich. »Nichts, nichts. Es wird schon wieder besser.«
Eine neue Wolke des süßlichen Heischgeruchs stieg auf und vermischte sich mit dem Weihrauch. Gopal zog eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und begann, mit raschen Zügen zu rauchen, als wolle er die eklige Luft in dem Raum überdecken.
Ich war hartnäckig. »Kann ich mir das mal ansehen, bitte?« Gopal rauchte die Zigarette schweigend fertig, dann wickelte er langsam und unwillig den Lappen von seinem Fuß. Selbst in dem Dämmerlicht des Schuppens war der große Zeh eine fesselnde Studie in Rot und Schwarz: schwarz an der Spitze und rot an der Wurzel.
Ein klarer Fall von Gangrän (Brand) mit sekundärer Infektion. »Wie lange ist das schon so?« »Einen Monat. Vielleicht auch zwei.« »Damit mußt du unbedingt ins Krankenhaus«, sagte ich. »Du brauchst nur zwanzig Minuten den Berg hinunterzulaufen, dann bist du da.« »Ich würde länger brauchen«, antwortete Gopal. »Und außerdem behandelt mich schon der Jhankri.« Der Jhankri - das war der Dorfschamane oder Medizinmann. »Der Priester ist auch hier gewesen «, fuhr Gopal fort, »und hat mir gesagt, daß ich nicht ins Krankenhaus gehen soll. Er und der Jhankri haben den Durchblick, sie haben beide gesagt, es braucht nur etwas Zeit.«
Ich betastete den Fuß, um den Puls zu fühlen. Fehlanzeige. Bis auf die rote Schwellung war der ganze Fuß kalt. Die Blutzufuhr in den Fuß war blockiert, fast mit Sicherheit als Folge einer bösartigen Form von Arteriosklerose, an der auch das Rauchen nicht unschuldig war. Gopal nahm sich die nächste Zigarette und zündete sie an. »Das ist nicht gut für deinen Fuß«, sagte ich und wies auf die Zigarette. »Und das Schwarze da ist tot und muß weg, sonst wird der ganze Fuß sich entzünden. Durch diese Krankheit haben manche Menschen schon ein ganzes Bein verloren.«
»Willst du mir damit sagen, daß du meinen Zeh abschneiden willst? « »Nicht den ganzen Zeh, nur das, was tot ist.« »Das ist nicht tot, das ist nur schwarz. Außerdem habe ich nicht genug Geld für das Krankenhaus.« »So? Womit bezahlst du dann den Jhankri und den Priester?« fragte ich. »Und diese Hühner, die du geopfert hast?« »Das ist etwas anderes«, entgegnete Gopal mürrisch. »Das ist so Sitte bei uns.«
Es hatte wohl keinen Zweck, hier weiter zu verhandeln, und ich drehte mich um, um zu gehen. Aber als ich mich gerade unter den Türrahmen duckte, kam mir ein Gedanke. »Wenn du willst, haben wir Medizin, um die Schmerzen zu lindern«, sagte ich. »Du kannst ja jemanden ins Krankenhaus schicken, der sie dir holt.« Ich wartete einen Augenblick, und als er nicht antwortete, ging ich hinaus und ließ ihn mit seiner Zigarette allein.
Ein paar Tage später erfuhr ich durch eine unserer Schwestern, die in der Nähe des Musterbauernhofes wohnte, daß Gopal schon seit zwei Monaten nächtelang vor Schmerzen stöhnte. Sie berichtete weiter, daß zweimal in der Woche der Jhankri kam, sich in Trance versetzte, ein von Gopal geliefertes Huhn schlachtete und dann mit dem toten Tier an dem kranken Fuß rieb. Und sie wußte noch mehr:
Der Priester hatte Gopals Verwandten gesagt, daß einer der Götter zornig war und mit täglichen Reis- und Ghee (Butter)-Opfern besänftigt werden mußte, wenn die Krankheit geheilt werden sollte.
Die Dienste des Priesters und des Schamanen waren selbst für einen armen Mann wie Gopal nicht kostenlos und hatten bereits viel Geld verschlungen.
Gopal sollte mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Bereits am nächsten Tag kam ein Mann ins Krankenhaus, um Schmerztabletten für ihn zu holen. Ein paar Tage später ging ich abends wieder zu der Farm, um nach Gopal zu sehen. Es ging ihm eher noch schlechter, aber wenigstens war er jetzt gesprächiger. Er erklärte mir, daß die Krankheit in seinem Zeh durch einen Geist verursacht wurde, den der Jhankri bis jetzt noch nicht hatte ermitteln und austreiben können. Gopal schien mir nicht mehr ganz so selbstbewußt und zuversichtlich zu sein wie das erste Mal, und ich nahm die Gelegenheit wahr und sagte ihm wieder: »Du mußt ins Krankenhaus!« Und ich erklärte ihm, daß sich in seinem Fuß die Arterien verengt hatten, so daß er nicht mehr genügend Blut bekam; sein Zeh war dabei, aus Blutmangel abzusterben.
Gopal nickte. »Gut, morgen abend kommt der Jhankri wieder, ich werde es ihm sagen.« Es lag mir auf der Zunge, ihm zu sagen, daß das keinen Sinn hatte, weil der Jhankri das sowieso nicht verstehen würde, doch dann hielt ich inne. Wußte ich denn überhaupt selber, was die Ursache von Arteriosklerose war? Sicher, Cholesterolablagerungen in den Arterien. Aber wo kamen die Ablagerungen her? Wie oft hatte ich schon über die Jhankris und ihren Glauben, daß jede Krankheit durch Geister verursacht wurde, gespottet, aber. . . glaubten wir Christen denn nicht auch an Geister, besonders an böse Geister? Und ich schwieg und ging.
Ich besuchte den Schuppen nicht mehr, aber andere berichteten mir, daß Gopal nach wie vor seine Nachte mit Stöhnen und Rauchen verbrachte. Dann hieß es, daß man einen zweiten, berühmteren Jhankri hinzugezogen und daß dieser in der vergangenen Nacht vor Gopals versammelten Verwandten und Freunden eine komplizierte Heilungszeremonie durchgeführt hatte, die von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang gedauert hatte. Der berühmte Schamane hatte sich in Trance versetzt, um mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten und die Hilfe einer oder mehrerer Gottheiten bei der Identifizierung des bösen Krankheitsgeistes zu erlangen. Denn war der Geist erst einmal bekannt, dann konnte man ihn beschwören und aus seinem Opfer austreiben.
Der Jhankri wurde in der Tat fündig. Gopal wurde von einem Bir geplagt, also von dem Geist eines Verstorbenen, der ohne die vorgeschriebenen Bestattungszeremonien gestorben war. Ein Bir gehörte zu den bösartigeren Geistern, und um ihn aus Gopal auszutreiben, ließ der Schamane vier Hühner opfern, blies magische Beschwörungsformeln auf den infizierten Fuß und ging mehrfach in Trance. Doch Gopals Schmerzen gingen nicht weg. Darauf versuchte der Jhankri, den Geist dadurch auszutreiben, daß er mit einem kleinen Strohbesen auf den kranken Fuß schlug; natürlich glaubte man, daß nur der Geist den Schmerz spürte und nicht sein Opfer.
Die ganze Nacht mühte sich der Schamane ab, begleitet von einem scheppernden Zinngong, Gebeten und Sprechgesängen und immer wieder neuen Reisopfern. Den - ungekochten, also sehr harten - Reis warf der Schamane in bestimmten Abständen gegen das kranke Bein. Als der Morgen kam, war Gopal wie gerädert. Gesund geworden war er rucht. Zwei Tage danach kam er ins Krankenhaus. Das Krankenhaus Amp Pipal war damals noch recht jung, und für den durchschnittlichen Dorfbewohner bedeutete es eine Mutprobe, sich diesen merkwürdigen ausländischen Ärzten und ihren ebenso merkwürdigen Diagnose- und Behandlungsmethoden anzuvertrauen. Man wußte zum Beispiel, daß diese Ausländer den Puls nur an einem Handgelenk fühlten und nicht an beiden gleichzeitig, wie das bei jedem anständigen Jhankri üblich war. Noch bedenklicher war, daß die Krankenhausleute nicht den Bauch abhorchten, auf den doch alles ankam, sondern das Herz. Dann dauerte es tagelang, bis die ausländische Medizin wirkte, während man doch wohl erwarten konnte, in ein paar Stunden geheilt zu sein. Doch am schlimmsten war das Gerücht, daß in diesem Krankenhaus manchmal ganze Körperteile des Patienten einfach abgeschnitten wurden; was weiter mit diesen Körperteilen geschah, das wußte niemand. Klar, daß ein vernünftiger Mensch um dieses Krankenhaus einen großen Bogen machte.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis die Schamanen und Priester gelernt hatten, daß bestimmte Krankheiten besser im Krankenhaus behandelt wurden. Daß zum Beispiel bei Schnittwunden, Knochenbrüchen und Wundbrand der Gang zum Krankenhaus eine Menge Hühner sparen konnte, von den Armen und Beinen, ja dem Leben der Patienten ganz zu schweigen.
Als ich Gopal in meinem Sprechzimmer untersuchte, sah sein Zeh noch genauso aus wie damals im Schuppen, aber an dem Bein liefen bereits die ersten verräterischen roten Streifen hoch. Blutvergiftungsgefahr . Ich sagte Gopal, daß wir ihn ein paar Tage dabehalten müßten, bis die Infektion abgeklungen war, und daß ich ihn dann in Schlaf versetzen und das tote Gewebe an seinem Zeh entfernen würde.
»Ich kann nicht bleiben«, war seine Antwort. »Tagsüber muß ich mich um meine Tiere kümmern, und wenn ich nachts nicht auf meinem Posten in der Farm bin, kriege ich keinen Lohn. Ich will nur eine Spritze.«
»Nur eine Spritze« - das war typisch hier. Die Nepalen glaubten an Spritzen. Aber ich wußte nur zu gut, daß »nur eine Spritze« Gopal nichts nützen und daß er nachher nur sagen würde: »Es bringt ja doch nichts, ins Krankenhaus zu gehen, ich habe es ja gleich gewußt.« Besser gar keine Behandlung als eine unwirksame Behandlung. Aber andererseits: Dieser Mann hatte endlich eingesehen, daß der Schamane ihn nicht heilen konnte. Sollte ich mir diese Gelegenheit wirklich durch die Finger schlüpfen lassen? Vielleicht mußte man ihn nur auf die richtige Art überreden.
Und ich ging zum Frontalangriff über und bearbeitete ihn fünf Minuten lang in meinem damals noch gebrochenen Nepali mit einem ernsten Vortrag über Blutvergiftung, Gasbrand, Arteriosklerose, Antibiotika, die Gefahren des Rauchens und den Widersinn von Hühneropfern, wenn er in Wirklichkeit nur jemanden brauchte, der ihm den Zeh abschnitt.
»Ich will nur eine Spritze«, wiederholte er. Etwas gebeugt und auf einen primitiven Stock gestützt, stand er vor mir. Er sah älter aus als seine vierzig Jahre, die Schmerzen standen ihm ins Gesicht geschrieben. Ich stellte mir vor, wie er am Abend wieder in dem Schuppen liegen würde, ohne Behandlung. Aber er war selber schuld, die einzige Behandlung, die ihm helfen konnte, wollte er ja nicht. Gab ich ihm etwas, das ihm nicht half, würde er sich wahrscheinlich nie mehr im Krankenhaus blicken lassen. Schmerztabletten? Sie würden die Beschwerden nur vorübergehend lindern, heilen konnten sie nichts.
Er wartete geduldig. Ich verschrieb ihm schließlich eine Penicillinspritze und Penicillintabletten für eine Woche und schickte ihn mit dem Rezept zur Krankenhauskasse. Einen Augenblick später kam der Kassierer zu mir: Gopal wollte nur die Spritze bezahlen, nicht die Pillen. Ich sagte dem Kassierer, daß ich dann halt die Tabletten selber bezahlen würde, aber unter gar keinen Umständen dürfe der Patient ohne sie nach Hause gehen.
Fast einen Monat lang sah ich Gopal nicht mehr. Ich hörte, daß es mit seinem Fuß vielleicht eine Woche lang besser gegangen war, dann waren die Schmerzen wiedergekommen, schlimmer als vorher. Worauf man wieder den Jhankri geholt hatte. Der Priester hatte neue, noch größere Opfer zur Besänftigung des erzürnten Gottes verordnet. Und dann hörte ich, daß Gopal mit hohem Fieber und Blutvergiftung im Bett lag. Ich beschloß, zu ihm nach Hause zu gehen und nach ihm zu sehen.
Als ich ankam, lag er auf einer Strohmatte auf seiner Veranda. Ich sagte: »Gopal, meinst du, daß der Priester und der Jhankri dich jetzt noch retten können?«
Er zuckte mit den Schultern. » Wer weiß? Was passiert, passiert.« Ich sagte: »Ich glaube, daß der wahre und lebendige Gott dich retten kann. Er hat das Krankenhaus bauen lassen. Es gibt Leute, die wären gestorben, wenn sie nicht in das Krankenhaus gegangen wären. Du könntest jetzt noch gesund werden, wenn du ins Krankenhaus kämst.«
»Ich habe aber kein Geld.« »Ich sorge dafür, daß das geregelt wird«, entgegnete ich, »egal was es kostet.«
Gopal blickte zum Strohdach der Veranda hoch. Seine Frau war aus dem Haus getreten, gefolgt von zwei rotznasigen kleinen Kindern. Die drei standen da und starrten mich an. »Gut«, sagte Gopal schließlich, »ich komme. Aber ich kann nicht mehr gehen.«
Ich wußte, daß der Vorsteher von Gopals Dorf ein Doli besaß, eine einfache, an einer langen Stange befestigte Hängematte, in welcher man Kranke transportieren konnte. Ich versprach, ihn sofort aufzusuchen und das Nötige zu veranlassen, damit man Gopal den Berg hinunter ins Krankenhaus trug.
Noch am gleichen Tag wurde Gopal ins Krankenhaus gebracht. Nach zweitägiger Behandlung war seine Blutvergiftung abgeklungen und seine Temperatur wieder normal. Am dritten Tag gaben wir ihm eine Vollnarkose, und ich entfernte das abgestorbene Stück des großen Zehs. Als ich abends nach dem Patienten sah, saß er schon wieder in seinem Bett und rauchte. Auf dem Nachttisch lag eine frischgeöffnete Packung Himal-Zigaretten. Zum sechsten Mal hielt ich Gopal meinen Vortrag über das Rauchen. Hatte er schon wieder vergessen, daß Rauchen die Blutgefäße zusammenzog, so daß das Blut noch schlechter in die Gliedmaßen floß? Wenn er seine Zigaretten nicht endlich aufgab, war die Operation umsonst gewesen. Und ich warnte ihn: Wenn er weiter rauchte, würde ich die Behandlung abbrechen.
Als ich am nächsten Morgen meine Visite machte, war Gopal nicht mehr da.
Gopals Haus lag an dem Weg zu unserer Kirche, und so schaute ich am nächsten Samstag (dem Sonntag in Nepal) morgens auf dem Weg zu unserem Gottesdienst bei ihm vorbei. Er stand barfüßig in seinem Feld und hackte. Der Wundverband hing nur noch lose um seinen Fuß und war über und über mit Dreck verschmiert. Er schien guter Dinge zu sein.
»Es tut schon nicht mehr so weh«, sagte er fröhlich, als er mich sah. »Bald bin ich gesund.« »Ja, weißt du nicht, daß du eine offene Wunde an dem Fuß hast?« fragte ich. »Die muß zweimal in der Woche gesäubert und frisch verbunden werden, und zwar im Krankenhaus. « Er versprach hoch und heilig, gleich am nächsten Tag zu kommen.
Er kam nicht. Erst nach zwei Wochen sah ich ihn wieder, als ich wieder auf dem Weg zum Gottesdienst war. Diesmal lag er auf seiner Veranda und klang schon nicht mehr so optimistisch. Anstelle des Verbandes klebte eine dicke Schicht zerstoßener und mit rohem Ei vermischter Blätter auf der Wunde. Der Fuß war dick angeschwollen, und ich sah sofort, daß jetzt auch die Knochen an der Wurzel des großen Zehs entzündet waren. Gopal hatte jetzt schon eine Woche nicht mehr arbeiten können, noch nicht einmal mehr als Nachtwächter. Der Jhankri war gekommen, hatte aber gesagt, daß er nichts mehr für ihn tun könne; ob er es nicht noch einmal mit dem Krankenhaus versuchen wolle? Doch das war Gopal denn doch zu peinlich gewesen; vielleicht wollte er auch nicht noch einmal über die Nachteile des Rauchens aufgeklärt werden.
Als er sich endlich doch wieder ins Krankenhaus tragen ließ, war die gesamte Innenseite seines Fußes eitrig entzündet. Die chronische Sepsis hatte seine Kräfte aufgezehrt, schlapp und abgemagert lag er da. Seine NachtwächtersteIle hatte er verloren, und die wenigen Felder, die er noch besaß, konnte er nicht mehr bestellen. Seine Frau, die mitgekommen war, versicherte mir, daß er sich von nun an strikt an meine Anweisungen halten würde.
Und tatsächlich: Gopal hatte sich geändert. Es tat ihm ehrlich leid, daß er sich so über meine Anweisungen hinweggesetzt hatte, und er versprach mir, sich zu bessern - wenn ich nur seinen Fuß retten konnte. Seine Angst war verständlich. Einfüßig in den Bergen Nepals zu leben - die Aussicht war in der Tat beklemmend.
Diesmal blieb Gopal volle zwei Monate im Krankenhaus. Ich mußte den Rest seines großen Zehs amputieren und ein Stück des entzündeten Knochens an der Fußinnenseite entfernen. Da der Fuß so schlecht mit Blut versorgt wurde, heilte die Wunde nur langsam.
Aber Gopal war geduldig und verlangte kein einziges Mal, entlassen zu werden. Jeden Morgen und Abend brachte ihm seine Frau einen großen Teller Reis mit Linsen. Unser Krankenhauskassierer, Dil Kumar, der Christ war, wurde Gopals Freund und tat alles, um ihn zu ermutigen. Langsam wurde nicht nur Gopals Körper wieder gesund, sondern auch seine Seele. Während er noch im Krankenhaus lag, wurde er erneut in den Panchayat von Amp Pipal gewählt. Jeden Tag kamen Besucher, die einen geschäftlich, die anderen einfach so, um sich mit ihm zu unterhalten.
Und in den Dörfern verbreitete sich die unerhörte Neuigkeit: »Habt ihr das schon gehört? In dem ausländischen Krankenhaus können sie Krankheiten heilen, gegen die selbst die Schamanen und Priester machtlos sind.«
In diesen Wochen wurde auch der alte Musterbauernhof, den die Regierung geschlossen hatte, unerklärlicherweise der Mission zurückgegeben, um unserem »Gesundheitsteam«, das ein umfassen-des Programm zur Gesundheitserziehung und Entwicklungshilfe in den umliegenden Dörfern begonnen hatte, als »Ernährungszentrum «zu dienen, und als ich dem Leiter des Gesundheitsteams versicherte, daß Gopal gut als Nachtwächter einzusetzen sei, gab er ihm seine alte Arbeit zurück, diesmal als ordentlicher Angestellter der Mission mit vollem Gehalt.
Als endlich der Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus kam, hatte Gopal gleich dreifachen Grund, zu strahlen: Sein Fuß war gerettet und seine Gesundheit wiederhergestellt, er hatte seine Arbeitsstelle wieder und er gehörte wieder zum Dorfrat. Und gekostet hatte ihn das Ganze keine Rupie. Für die Begleichung der gesamten Rechnung, immerhin etwas unter fünfzig Dollar, sorgte eine Spende von christlichen Freunden aus Amerika.
Gopals Nachbarn und Bekannte waren tief beeindruckt. Daß ein von einem bösen Geist befallener Mann, den selbst die Schamanen aufgegeben hatten, ins Missionskrankenhaus ging und geheilt wieder herauskam, war eine Sensation. Der Fall Gopal war einer von vielen Fällen, die im Laufe der Jahre dem Krankenhaus Amp Pipal den Ruf verschafften, kein gesunder Ort für böse Geister zu sein.