Interview mit Claude Marthaler - Cyclonaute und Abenteurer

Man muss seine innere Stimme finden und ihr folgen

 

 Sich selber treu bleiben und teilen als Lebensmotto

 

Wie würde sich Claude Mathaler selber beschreiben?

Ich war schon immer ein grosser Träumer. Ein Enthusiast, sensibel, zerstreut aber auch besessen, auf Gedeih und Verderb. Ich habe viel Energie und bin gewöhnlich guter Laune. Die Verwirklichung meines Kindheitstraumes, eine Weltreise mit dem Fahrrad, hat mir erlaubt, mir selber treu zu bleiben, zu wachsen und zu teilen.

Als Kind wollte ich Clown werden, heute bin ich ein Cyclonaut.

 

Ein Drittel des Lebens im Sattel; was bleibt, was nimmst du aus dieser Zeit mit für deine zweite Lebenshälfte?

Zugleich Fernweh und Heimweh, eine grosse innere Zufriedenheit und zudem einmalige geografische Kenntnisse und Erfahrungen mit Menschen, die sehr stark von dem abweichen, was an Hochschulen gelehrt oder in unserer Medienlandschaft verbreitet wird.
Auch ein irreales Gefühl, als seien diese Reisen im Grunde nur Träumereien gewesen.

Beim Reisen wie im Leben ist es der erste Pedalschlag, der zählt und auf den es ankommt und der letzte, der kostet, mit dem man für alles bezahlt. Der Weg wirbelt viel mehr Staub auf und stellt viel mehr Fragen als er Antworten liefert, da man stets mit der schwerstmöglichen Last, sprich mit sich selber, unterwegs ist.

Ich weiss, dass Wille und Erkenntnis so unerschöpflich wie das Weltall sind und dass alles, was uns einschränkt und uns Grenzen setzt, zur Hauptsache aus uns selber kommt.

Ich finde Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, indem ich die Sachen so nehme, wie sie kommen und indem ich Situationen relativiere.

Ich fühle mich verbunden mit den Ereignissen im Ausland und kann Geschehnisse sofort realistisch einordnen.

Ich fühle mich wie ein Puzzle, zusammengesetzt und zerlegt aus Bildausschnitten von Russland, Indien, Tibet, Bolivien, usw.

Obschon ich nur reine kleine Wohnung besitze, gebe ich mich gastfreundlich und erteile Radfahrern Ratschläge.

 

 

Was ist am Nomadenleben so faszinierend?

Eine unglaubliche Freiheit, die Freude bereitet und wo das Unbekannte zum täglichen Brot gehört. Ein gesundes Leben an der freien Luft, mit dem Hunger, dem Durst, der Müdigkeit und der Sonne als Grundtenor. Ein starkes Vertrauen in seinen eigenen Instinkt und in die Menschen wie auch eine erhöhte Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten. Die unzähligen geplanten und nicht geplanten Begegnungen.

Eine Leidenschaft kann man nicht mit Worten beschreiben, man muss sie leben. Meine ersten Velotouren unternahm ich als Jugendlicher, „gepuscht“ durch Reisebücher und durch Begegnungen mit anderen Reisenden und vor allem durch meine unersättliche Neugier. Ich wollte die Welt kennen lernen, langsam, mit meinen eigen Möglichkeiten, Geografie Atemzug um Atemzug selber erfahren, zusammen mit einer meiner grossen Liebe im Leben: dem Velo. Schritt für Schritt hat sich das Reisen mit dem Fahrrad zu einem Beruf entwickelt und ist zu einer grossen Etappe meines Lebens geworden.


Ist das nicht auch eine Flucht vor dem Tragen von Verantwortung im Alltag?

Ununterbrochen zu verreisen ist eine freiwillig gewählte Verbannung, die Motivationsgründe sind zahlreich und lassen sich sicher nicht bloss auf eine Flucht vor dem Alltag reduzieren.

Angefangen hat es im elterlichen Garten, dem Tor zur Outdoorwelt: Berge, Wanderungen, Skifahren, Lagerfeuer. Dann die Pfadi. Später, 1979, ist mein Bruder im Alter von kaum 22 Jahren bei seiner Leidenschaft umgekommen, er ertrank in einer Höhle in Papua-Neuguinea auf einer höhlenkundlichen Expedition.
Sein plötzliches Verschwinden hat mir einen Grund mehr gegeben, meinen Traum zu realisieren. Als Jugendlicher habe ich die Atomkraftwerke bekämpft und mit 20 Jahren verbrachte ich mehrere Monate im Gefängnis, weil ich NEIN zum Armeedienst gesagt hatte.

Mein rebellischer Geist von damals ist zwar immer noch vorhanden, aber heute denke ich differenzierter und anstatt mich aufzulehnen, strebe ich jetzt nach Unabhängigkeit und danach, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen, indem ich sie aufschreibe. Das Schreiben ist ein stetiger Begleiter auf meinen Reisen.


Gibt es in der zweiten Lebenshälfte einen sesshaften Claude Marthaler? Wie stellst du dir dein künftiges Leben vor?

Ich werde dieses Jahr 50 Jahre alt und stelle mir viele Fragen.

Was den Beruf betrifft, so muss ich mich früher oder später umschulen, denn es wird schwierig, zu 100 % von meiner Leidenschaft zu leben (von Diavorträgen). Zur Zeit portraitiere ich eine Reihe von Weltenbummlern für eine welsche Tageszeitung. Zum Ziel habe ich ein „Halb-Nomenden-Leben“, so dass ich einen Teil des Jahres mit Reisen verbringen kann.

Längerfristig möchte ich mit meinen Velo-Reiseerfahrungen einen Beitrag zu einem kollektiven und kulturellen Projekt in Genf leisten, „dem Haus des Velos“. Das ist auch ein Traum, den ich beim Reisen hatte. Zusammen mit in diesem Gebiet aktiven Vereinen (wie z.B. Pro Vélo) sind wir bereits dabei, einen Verband zu bilden und möchten verschiedene Aktivitäten unter einem Dach zusammbringen: Reparaturwerkstatt, soziale Integration, Transport-Politik, Kaffee, Herberge für Radfahrer, Mediathek und kulturelle Animation. Solche Strukturen existieren z.B. bereits in Frankreich oder in Québec.

Im Privatleben möchte ich mehr Zeit mit meinen alternden Eltern verbringen. Ich überlege mir auch, evtl. noch eine Familie zu gründen mit meiner aktuellen Partnerin, eine Veloreise als Paar oder sogar als Familie zu machen, - und vielleicht eines Tages in einem Chalet in den Bergen zu leben. Auf alle Fälle will ich ein Leben wählen, das näher an der Natur ist.


Du warst oft in Lebensgefahr. Wovor hat Claude Marthaler heute Angst? Ist das etwas anderes als vor vielen Jahren?

Um ehrlich zu sein, ich fühle mich viel stärker und fähiger in widrigen Situationen als im sesshaften Leben, wo ich mich oft eingeengt und unfähig fühle. Das Nomadenleben ist zu meiner Normalität geworden. Ich bin von Natur aus nicht ängstlich, aber hier und heute fürchte ich mich vor einem definitiven Engagement, wie z.B. Kinder zu haben und davor meine Veloreisen, die meine Leidenschaft nähren, begraben zu müssen.


Was hat dich am meisten geprägt im Leben?

Wie bei jedem Menschen ist es zuerst einmal die Liebe und die Freundschaft.

Auf Reisen in der Dritten Welt ist der Graben zwischen allgemein positiven menschlichen Werten (z.B. die Opferbereitschaft der Eltern, um das Los ihrer Kinder zu verbessern) und der politischen Welt, die sich niemals um die Armen gesorgt hat, schockierend.


Und was stört dich am meisten im „zivilisierten“, technisch geprägten heutigen Leben?

Parallel zu den phänomenalen Fortschritten in der Technik - und vor allem in den Kommunikationsmöglichkeiten, verschlimmert sich auch das Elend der Menschen, die Isolation nimmt zu. Der schnellere Lebensrhythmus wirft gut und gerne Fragen nach dem Sinn des Lebens auf.

 

Worauf möchtest du nicht verzichten? Und was brauchst du in Genf nicht, um dich wohl zu fühlen?

Ich will meine berufliche Unabhängigkeit und meine Bewegungsfreiheit behalten. Ich brauche keinen Komfort, auch nicht viel Geld, um mich gut zu fühlen; aber ich brauche Zeit und wahre Freunde.


Unterwegs sein, mit vielen Kulturen bekannt werden bildet, ergibt eine wichtige Dimension von Lebenskompetenz. Was gibst du der heutigen Jugend mit auf ihren Weg?

Zeigen, dass die Welt vielseitig ist, schön und zerbrechlich in einem und dass wir alle im selben Atemzug alles und nichts sind, aber vor allem und vielleicht auch verbunden miteinander.

Man muss seine kleine innere Stimme finden und ihr folgen. Um seine Träume zu verwirklichen, wie immer man lebt, ist die Ausdauer unerlässlich: Eine Weltreise mit dem Velo beginnt mit dem ersten Pedalschlag.


Welcher der bereisten Kontinente war für dich der eindrücklichste? Warum?

Die erste grosse Reise ist wie eine erste Liebesgeschichte; man stürzt sich voll hinein, ohne zu überlegen. So zeichnet sie einen für die Ewigkeit. Für mich war das die Entdeckung Asiens.


Welches Reiseerlebnis war für dich das eindrücklichste? Warum?

Mich haben immer diejenigen beeindruckt, die in schwierige Situation hineingeboren wurden und die es geschafft haben, ihr Starthandicap in ein Sprungbrett umzuwandeln, um so Unglaubliches zu erreichen und ihren Nächsten zu helfen.

Im Frühling 95 auf der Strasse nach Lhasa (Tibet) in einem Sandsturm auf mehr als 4000 Metern Höhe bin ich Chen Yin Chao begegnet, einem buddhistischen Mönch, der sich auf einer Pilgerreise befand und dabei zu Fuss über 40‘000 km quer durch ganz China zurücklegte und dies, obschon seine Füsse von Geburt an um 180 Grad nach hinten, also in die falsche Richtung schauten.


In Asien und Afrika leben vor allem Naturvölker. Gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen diesen Völkern, Stämmen und Kulturen der beiden Kontinenten?

Ja und nein. Der Mensch passt sich einfach überall an um zu überleben.

Die Mentalität, der Glauben, die Lebensart wird geprägt durch viele entscheidende Faktoren, welche übrigens oft genau die gleichen sind, egal ob in Afrika oder in Asien. Zu den wichtigsten Faktoren gehören das Klima (Wüste, äquatoriales, polares oder kontinentales Klima), das (Nicht-) Vorhandensein von Wasser und die Zusammensetzung der Bevölkerung.

All diese Völker sind zuerst einmal animistisch (oder waren es) und betrachten die Natur als Partner. Ihre Gewohnheiten sind verschieden, aber ihre Lebensart gleicht sich, je nachdem ob sie sesshaft oder Nomaden sind.


Du träumst von einem Schweizer „Velohaus“, wie es z.B. bereits in Frankreich realisiert ist. Wie stellst du dir dieses Zentrum konkret vor? Gleicht das eher einem Museum oder einem Freizeitzentrum?

Ein Ort der lebt, kultureller und sozialer Natur, der alle Akteure und Aspekte des Fahrrads zusammenfasst: Gesundheit, Wettkampf, Reise, Transportpolitik, Kunst, Literatur, usw.
Und was die die Art des Velohauses betrifft, so schwebt mir eine museumsartige Inszenierung sämtlicher Fahrzeuge vor, welche von Muskelkraft betrieben werden, aber das ist zur Zeit zu 100 % Wunschdenken … Ein Pedalschlag nach dem anderen.



Herzlichen Dank, Claude für die offenen und ehrlichen Antworten. Wir wünschen dir alles Gute für die Zukunft!


Interview: Christine Fischer

Claude Marthaler / Genf, 23. Februar 2010 /  www.yaksite.org

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