Yves Kilchör - Internetradiobegründer
Yves Kilchör, 21, Direktionsassistent im Bundesamt für Migration BFM, Internetradiomitbegründer, sehbehindert
Grundsätzlich verändern sich die Menschen immer, sobald sie mich besser kennen und mehr über Sehbehinderung wissen.
Yves, wie würdest du dich in zwei Sätzen selber beschreiben?
Ich bin kommunikativ, an vielem interessiert, humorvoll, kann jedoch auch ernst sein, bin zielstrebig und manchmal zu sehr ein Perfektionist.
Du besuchtest die Blindenschule in Zollikofen. Was bleibt dir aus dieser Zeit in bester Erinnerung?
Viele Geschichten, Erfahrungen, Begegnungen und Momente bleiben mir in guter Erinnerung. Vor allem aber gab mir diese Schule die Möglichkeit etwas aufzubauen, das ich bis heute begleite und das mir bis heute immer wieder spannende Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen bringt, nämlich Radio Blind Power. Andererseits wurde ich dort aber auch schulisch gut auf die Zukunft vorbereitet. Hätte ich eine öffentliche Schule besucht, wäre ich heute wohl etwas lockerer, schulisch aber wohl nicht auf demjenigen Stand, auf dem ich heute bin. Die Blindenschule "produziert" oft nicht nur schulisch gute Schüler, sondern auch etwas zu brave Schüler.
In der Blindenschule hast du so kleine Klassen, dass du gar nicht auf die Idee kommst, zu schwatzen, während die Lehrerin/der Lehrer spricht, du gibst keine Zettel weiter usw. Gewisse Lehrer in der Blindenschule erkennen das und "lernen" den Schülern, dass sie einander Zettel weiter geben könnten usw.
Wenn du in eine öffentliche Schule kommst und begegnest z.B. solchen Verhaltensweisen, die du vorher noch gar nicht gekannt hast, für die andern Kindern aber normal sind, wirst du als sehr "braver" Schüler angeschaut! Zu brav! Das wirkt dann auch nicht wirklich integrierend!
Du hast eine kaufmännische Lehre in der Bundesverwaltung absolviert. Wie war der Sprung von der strukturierten Umgebung in Zollikofen in die öffentliche Freiheit?
Sehr positiv: Meine damaligen Mitlernenden waren und sind super! Ich war von Beginn weg voll akzeptiert und integriert. Einer von ihnen, mit dem ich auch in dieselbe Klasse ging, schaffte es sogar, mir so unauffällig beizustehen, dass meine Mitschüler am Anfang gar nicht merkten, dass ich sehbehindert bin. Aber eben, ich durfte etwas aus mir rauskommen (siehe oben). Ansonsten genoss ich es, einige Freiheiten mehr zu haben und gewisse Verpflichtungen, die man hat, wenn man in einem Internat lebt, nicht mehr zu haben. In der Schule und im Bundesamt "gewöhnten" sich die Leute rasch an meine etwas andere Situation. Ich wurde jedoch, wenn auch immer möglich, gleich behandelt. Das machte ich gleich vom ersten Tag an mit meinem damaligen Lehrmeister ab: Adaptieren ja, schonen nein!
In deiner Berufskarriere musst du gezwungermassen viel lesen. Wie liest du als stark Sehbehinderter?
Lesen lernte ich in der Blindenschule. Während meine Mitschüler "Schwarzschrift" lernten, lernte ich die Blindenschrift. Ausserdem hatte ich während einigen Jahren eine zusätzliche Lektion, in der ich in den ersten Jahren die Blindenschrift und später die Kurzschrift (wie Steno) lernte. In einer weiteren Zusatzlektion lernte ich die normale Schrift (so genannte "Schwarzschrift"). Heute lese ich vor allem mittels Computer. Hier liest mir die meisten Texte die Sprachausgabe vor, anderes lese ich mit der Vergrösserungssoftware. So sind meine Schulbücher im Word-Format (der grösste Teil) oder in Braille (Blindenschrift) (ganz kleiner Teil). Literatur erhalte ich in Braille, Word oder in Form eines Hörbuches. Hier gibt es das so genannte "Daisy", was das gute alte Kassetten-Hörbuch ersetzt. Daisy-CDs werden mit dem Computer oder einem Daisy-Gerät gehört. Dieses System ermöglicht, dass man satz-, absatz- oder kapitelweise springen kann, Lesezeichen setzen und anspringen kann und dass man Einstellungen wie Lesegeschwindigkeit, Lautstärke usw. individuell einstellen kann. Oft lese ich mit meinem MP3-Player unterwegs. Daisy ist nämlich mit einem normalen MP3-Player abspielbar.
Liest du in deiner Freizeit ebenfalls?
Zu Hause lese ich vor allem News im Internet und E-Mails, ausserdem Dokumente, die mich privat interessieren oder die ich für die Radio-Tätigkeit brauche. Sonst fast nichts, da ich ja für die Schule viel lesen muss. Es kommt somit fast nie vor, dass ich privat ein Buch lese.
Gibts ein Lieblingsbuch?
In der Schule lasen wir kürzlich "Ein perfekter Freund" von Martin Suter, was ich spannend fand.
Wie ist das, wenn man sich als Sehbehinderter Filme anschaut?
Wichtig ist, dass jemand beschreibt. Vor allem zu Beginn eines Films braucht man Erklärungen. Sobald man die Personen dann mal kennt und die Geschichte einigermassen klar ist, komme ich fast ohne Kommentare aus. Aber ich wähle die Filme, die ich mir ansehe, gut aus. Ich schaue sie fast lieber zu Hause als im Kino. Zu Hause kann ich näher an den Fernseher ran gehen und man kann mal stoppen, wenn dies nötig ist.
Du warst früher ein ziemlicher Computer-Freak. Wo liegen in der Arbeit mit dem PC die Herausforderungen für dich?
Ich brauche den PC vor allem für die Arbeit, Schule, das Radio, die privaten E-Mails und Internetrecherchen. Während mich der PC früher faszinierte, brauche ich ihn heute nur noch als Hilfsmittel (Arbeitsinstrument). Freaks und Profis sind andere. Ich verbringe in etwa 10 Stunden am Tag am PC, viel zu viel!
Was sagst du zu jemandem, der staunt, dass ein Sehbehinderter überhaupt mit dem PC umgehen kann? :-)
Wenn jemand nicht weiss, weshalb und wie eine sehbehinderte Person einen PC bedienen kann, erkläre ich es oder zeige es. Nach wenigen Fragen, die in etwa immer gleich sind, ist eigentlich alles klar. Grafiken sind für eine Person, welche die Sprachausgabe braucht, nicht erkennbar. Ausserdem stellen gewisse, grafisch aufgebaute Internetseiten, ebenfalls eine Herausforderung dar oder sind gar nicht benutzbar (z.B. Flash basierte Websites). Deshalb ist es wichtig, dass sich Webmaster bei Access for all (www.access-for-all.ch) informieren. Schon das Hinterlegen von Bildern mit Alternativtexten hilft viel.
Du bist ein total engagierter und kommunikativer Mensch. Du hast u.a. Radio Blind Power gegründet und dies in den letzten 10 Jahren zu einem respektablen Webradio geführt. Was liebst du an diesen Engagements?
Da gibt es vieles. Das kann ich nicht in Worte fassen: Die Team-Arbeit, die lustigen Studio- und Reportagemomente, spannende Persönlichkeiten (berühmte und nicht berühmte) kennen lernen, gewisse schwierige und erfolgreiche Momente... Einfach unbeschreibbar.
Kannst du uns ein paar Höhepunkte aus deiner Radio-Karriere preis geben?
Einige wenige Highlights aus meiner Erfolgspalette wären:
- Interview mit René Rindlisbacher
- Auftritte in "Quer", SF 1
- "VideoGang", auf DRS1 und 3
- Jugendpreis der Burgergemeinde Bern, 2007
- Jugendmitwirkungspreis des Kantons Bern
- UKW-Woche im Museum für Kommunikation
- Übertragung der EURO 2008 .....
Du zählst viele Highlights auf. Was war das "coolste" und warum?
Das ist schwierig zu sagen; sehr eindrücklich waren sicher das Interview mit René Rindlisbacher, der TV-Auftritt im Quer oder eine Morgenshow, in welcher wir den Aufruf machten, dass die HörerInnen uns das Frühstück ins Studio bringen sollten. Ich hätte nie gedacht, dass wirklich jemand etwas bringt. Eine Frau brachte dann Reis! Ich war ganz erstaunt, welchen Aufwand sie auf sich nahm und sogar noch für uns kochte. Deshalb liessen wir dieses Element in der UKW-Woche im Museum für Kommunikation wieder einfliessen und auch da erhielten wir immer wieder ein Frühstück, einmal sogar Prosecco!
Ende Mai 08 fand im Museum für Kommunikation in Bern die Aktionswoche „Begegnung im Dunkeln“ statt. Diese Woche war sehr erfolgreich. Du warst mit Radio Blind Power vertreten. Wie ist die Woche bei den jugendlichen Besucherinnen und Besucher angekommen?
Für Radio Blind Power war es eine grosse Herausforderung über UKW senden zu können und ein attraktives und abwechslungsreiches Programm zu produzieren, die Mitarbeitenden, aber auch Schüler der beiden Blindenschulen (Zollikofen und Marburg) einsetzen zu können und über das Festival berichten zu können. Von der Hörerschaft erhielten wir fast ausschliesslich positive Rückmeldungen. Für die im Festival anwesenden Schüler waren wir ein wichtiger Bestandteil der Woche. Bei uns konnten sie Musikwünsche aufgeben, wurden interviewt und durften auch einmal Dampf ablassen am Mikrofon. Wir begleiteten sie jedoch auch vom Aufstehen, während dem Festival bis wieder ins Bett. Andererseits war es spannend und abwechslungsreich, für einmal nicht in einem Studio, sondern aus einem "öffentlichen" Raum zu senden. Die Woche war für uns ein grosser Erfolg.
Hast du in jener Woche speziell eindrückliche Momente erlebt?
Es gab total coole Situationen, vor allem mit unseren Morgengästen. Die 3 Stunden mit René Rindlisbacher und Sven Furrer (der erst nach 1.5 Stunden eintraf) waren durchwegs lustig. Mit Grosi von den Bagatello unterhielten wir uns eine Stunde lang über WC-Papier. Sicher war aber auch das Sozi-Special ein grosses Highlight. Unser Sozi beantwortete die Frage der Hörerschaft, wobei es auch um Themen ging, die man zu einer solchen Zeit in einem Radio sonst nirgends auf eine so lustige Weise und doch so anständig thematiseren kann. Die Hörerschaft hat da (per Telefon, im Studio und per SMS) super mitgemacht.
Yves, dein noch junges Leben ist bisher sehr ausgefüllt und spannend verlaufen. Trotz der vielen eindrücklichen Momente tönt das meiste nach sehr viel Arbeit. Kannst du dabei ab und zu auch über dich selber lachen?
:-), ja, zum Beispiel stieg ich einmal aus dem Zug und war noch recht verschlafen. Da ich jemand bin, der recht schnell vorwärts geht, nervte ich mich, weil die Leute vor mir nicht schneller gingen. Also gab ich Gas und räumte aus dem Weg, was sich gerade vor meinem Stock befand. Plötzlich stiess ich mit einer Frau zusammen und sagte: "Können Sie eigentlich nicht schauen?" Sie war völlig entrüstet und fragte: "Sehen Sie denn meinen Blindenführhund nicht?". Klären konnte ich das mit ihr erst ein paar Wochen später, denn sie rannte weiter auf ihren Zug.
Nach all deinen Antworten ist klar festzustellen, dass du überhaupt nicht ins gängige Bild eines Sehbehinderten passt, im Gegenteil! Welche Vorurteile nerven dich am meisten? Wie reagierst du dagegen?
Schlicht und einfach: Aufklären und beweisen, dass ich anders bin. "Schuld" an diesen Vorurteilen sind jedoch nicht nur die sehenden Personen, sondern auch viele sehbehinderte und blinde Personen, die den Clichées leider gerecht werden. Gewisse, weil sie sich nicht "normal" verhalten wollen, andere, weil sie es nicht können. Das finde ich sehr schade, denn von den sehenden Personen spüre ich ein grosses Wohlwollen. Dieses Wohlwollen ist jedoch nur dann vorhanden, wenn man möglichst "normal" ist.
Hat sich aus deiner Wahrnehmung im Umgang mit Sehbehinderten in den letzten Jahren etwas geändert?
Ich werde ja immer älter und rutsche immer mehr in die politische und gesellschaftliches Auseinadersetzung mit Behinderung hinein. Ich habe das Gefühl, dass sich immer mehr Leute darum tun, dass der Zugang (z.B. Webseiten usw.) immer leichter wird. Vielleicht bekam ich das allerdings als Kind/Jugendlicher einfach noch nicht so mit. Grundsätzlich verändern sich die Menschen aber immer, sobald sie mich besser kennen und mehr über Sehbehinderung wissen.
Herzlichen Dank, Yves für dein ausführliches Gespräch! Wir wünschen dir noch viele weitere spannende, befriedigende und erfolgreiche Momente in deinem beruflichen und privaten Leben!
Interview Christine Fischer, Juli 2008