Wenn das Stottern das Leben prägt
Artikel von Fabrice Müller - erschienen im Beobachter 12/2000
Ke-ke-kennen Sie das Gefühl, bei gewissen Buchstaben permanent stottern zu müssen? Rund zwei Prozent der Bevölkerung sind vom Stottern betroffen. Über die Ursachen sind sich die Forscher immer noch nicht einig. Verschiedene Therapien bieten wertvolle Hilfe.
Das Telefon läutet. Der Hörer liegt griffbereit. Doch die Hand stockt. Die Lippen sind blockiert. Dabei sollten sie nur für kurze Zeit zusammen bleiben, um das nasale "m" möglich auszusprechen und sich dann für das anschliessende "ü" kreisrund zu öffnen. Doch die Lippen verharren aufeinander. Unerbittlich macht das Telefon auf den wartenden Anruf aufmerksam. Der Stresspegel steigt. Die Atmung ist nicht mehr im Fluss. Das Zwerchfell angespannt. Wird es gelingen, den Namen beim ersten Anlauf zu sagen? Funktioniert die gelernte Technik, um den Stotterblock zu überwinden? - Eine alltägliche Situation im Leben eines stotternden Menschen. Realität für rund zwei Prozent der Bevölkerung. Das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Stotternden liegt im Erwachsenenalter etwa bei 1:4. Stottern beginnt oft im Alter zwischen drei und fünf Jahren.
Fehlkoordination im Sprechakt
Das Phänomen Stottern ist bereits seit über zweitausend Jahren bekannt. Forscher und Praktiker versuchen seitdem, den Problembereich theoretisch zu erklären. Noch vor einigen Jahren vertraten einige Autoren die These, Stottern sei eine rätselhafte Redestörung. Diese Theorie übersieht jedoch, dass sich im Laufe der Jahrhunderte ein reiches Wissen über das Phänomen Stottern gebildet hat. Heute weiss man, dass Stottern durchaus systematisch beschrieben werden kann: "Mit dem Stottern geht häufig eine unübliche Atemtechnik und eine Fehlkoordination der am Sprechakt beteiligten Muskelgruppen einher", charakterisiert Professor Peter Fiedler vom psychologischen Institut der Universität Heidelberg das Stotterphänomen. Stottern äussert sich in der Regel durch sekundenlang andauerndes verkrampftes Offenhalten des Mundes oder ein Zusammenpressen der Lippen, Aufeinanderschlagen der Zähne, deutlich hörbare Glottisanschläge, in Sprechpausen eingeschobene ruckartige Bewegungen der Zunge sowie schnappendes Einatmen im Stotterrhythmus während des Sprechens. Stottern macht sich auch bemerkbar durch Einschübe wie "äh" oder "also", Verbesserungen wie "Ich bin - ich habe das Fenster geöffnet", unvollständige Sätze, Teilwortwiederholungen wie "Ba-ba-ba-ball", Wortwiederholungen, Satzteilwiederholungen wie "ich wollte ich wollte gehen", unterbrochene Wörter wie "ich wollte g---(Pause)---ehen", sowie Verwendung von verlängerten Lauten. Wahrgenommen werden von den Zuhörern allerdings meist nur die Teilwortwiederholungen, unterbrochene Wörter und verlängerte Laute.
Prominente Stotternde
Die Sprechstörung wird nicht in allen Kulturen gleich betrachtet. "Je einfacher eine Kultur, desto weniger gilt Stottern als eine Behinderung. In der Schweiz kommt bei Kindern die Invaliditätsversicherung für Stottertherapien auf", berichtet Nitza Katz aus Bülach, Professorin für Sprachheilkunde an der Universität Dortmund und Buchautorin über ihr Spezialgebiet - das Stottern. In der modernen Gesellschaft wird Stottern mit Schwäche und Unsicherheit gleichgesetzt. "In Filmen sind es häufig Dorftrottel, die stottern. Dieses Bild ist zum Teil immer noch in den Köpfen vieler Menschen verankert", bedauert Beat Meichtry, Geschäftsführer der Vereinigung für Stotternde und Angehörige (VERSTA) und selber Betroffener. Dabei ist die Sprechstörung in allen Sozial- und Bildungsschichten vertreten. Selbst prominente Persönlichkeiten wie Boris Becker, Prince, Marilyn Monroe, Winston Churchill oder Scatman John zählen bzw. zählten zu den Betroffenen. Stotternde zeichnen sich gemäss Meichtry meist durch ihre Feinfühligkeit gegenüber Mitmenschen sowie ihren grossen Wortschatz aus. "Ich habe Stotternde vielfach als ganz kluge Menschen kennengelernt. Stotternde sind Perfektionisten und stellen grosse Anforderungen an sich selber. Entweder sie wachsen daran, oder sie zerbrechen an ihrem Leiden", sagt Katz. Wer stottert, zieht sich normalerweise zurück, spricht weniger und nutzt andere Kommunikationskanäle als etwa das Telefon. "Der Stotternde leidet meist unter starken Sprechhemmungen und sozialen Ängsten. Versagensgefühle tauchen auf. Besonders starke Stotterer müssen objektive Nachteile befürchten. Das Stottern prägt sein ganzes Leben", ergänzt Holger Prüss, Therapeut an der Rheinischen Landesklinik Bonn und selber erfahrener Stotternder.
"Das Stottern hat mich nie besiegt"
"Ich stottere seit dem sechstem Lebensjahr und komme erst im Erwachsenenalter langsam damit klar. Mir sind in dieser Zeit viel Intoleranz und Diskriminierung entgegengebracht worden. Wegen meines Sprechproblems wurde ich auf eine Schule für Lernbehinderte abgeschoben und habe lange Zeit gebraucht, um mein Selbstwertgefühl aufzubauen. Nun studiere ich mit 38 Jahren Literaturwissenschaft und mache selbst jetzt noch negative Erfahrungen mit Lehrpersonen und Studenten", berichtet Vera in einem Internet-Diskussionsforum für Stotternde. Heinz schreibt: "Es gab viele Situationen, in denen ich sehr gern hätte fliessend sprechen können und auch eine Menge zu sagen gehabt hätte, ich aber den Mund gehalten habe. Das Stottern hat mich jedoch nie besiegt. Heute ist es so etwas wie mein Markenzeichen. Alle haben begriffen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn ich etwas sage. Und wer es nicht tut, hat das Pech, seine Zeit mit mir zu verschwenden, bis ich alles mitgeteilt habe. Meiner Frau habe ich es zu verdanken, dass ich mein Stottern fast <vergesse>." Der 15jährige Christoph aus dem Baselbiet besucht zurzeit die Sprachheilschule St. Gallen. Vor einigen Monaten erzählte er: "Wenn ich merke, dass ein Wort nicht herauskommt, würde ich am liebsten aufstehen und aus dem Schulzimmer gehen. Ich hoffe dann, dass der Lehrer möglichst schnell weitermacht." VERSTA-Geschäftsführer Meichtry erinnert sich, als er während seiner starken Stotterzeit unter Ängsten litt, wenn er eine Kommunikation führen musste. "Ich wagte oft nicht, jemanden anzusprechen. Und wenn, dann brauchte ich unzweckmässige Mittel wie Anspannung und Druck, um meine Stotterblöcke zu überwinden." Der Körper speichert solche Mittel und wendet sie automatisch immer wieder an, meistens unbewusst.
"Wir unternahmen alles Menschenmögliche"
Auch für die Angehörigen von Stotternden ist der Umgang mit dieser Sprechstörung alles andere als einfach. "Unser Sohn Roger (26) stottert seit dem Kindergartenalter und machte zum Teil sehr schlimme Phasen durch. Jahrelang nahm er kein Telefon ab. Wir unternahmen alles Menschenmögliche, um ihm zu helfen, und liefen von einem Therapeuten zum anderen. Ich hatte dabei das Gefühl, der Schmerz war für uns manchmal fast noch grösser als für Roger selber. Für uns war diese Zeit nicht immer einfach. Wir machten sicher auch Fehler, indem wir zum Beispiel sein Stottern korrigieren wollten", erzählt Kurt Rubin über die Leidensgeschichte seines Sohnes. Roger Rubin begann vor rund sechs Jahren, verschiedene Kurse der VERSTA zu besuchen. Seit dem habe sein Sprechen enorme Fortschritte gemacht. Schwere Rückfälle seien in den letzten vier Jahren ausgeblieben. Der gelernte Maschinenzeichner ist heute Ansprechperson der VERSTA-Selbsthilfegruppe St. Gallen. Über den Gesang lernten sich die Logopädin Gaby Wespisser aus Basel ihren Lebenspartner kennen, der mit Psychotherapie viele Jahre vergeblich gegen sein Stottern angekämpft hatte und jetzt mit dem neuen Ansatz "Stottern nicht vermeiden, sondern kontrollieren", zum Erfolg kommt. Wespisser hat übrigens zusammen mit anderen Logopädinnen in der Region Nordwestschweiz das Projekt "Stottern-kontrollieren-können" (Stokokö) für Kinder und Jugendliche auf die Beine gestellt. "Ich lernte hinter dem Stottern einen interessanten Menschen kennen. Stottern ist nicht das Hauptthema unserer Beziehung. Wir wollen keine therapeutische Partnerschaft. Dank meines Hintergrundwissens über das Stottern können wir jedoch sachlich über das Thema sprechen. Manchmal ärgert es mich aber, wenn er seine Techniken nicht übt und folglich wieder stärker stottert", erzählt die Logopädin.
Meist eine Kombination von Ursachen
Über die Ursachen des Stotterns weiss man auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wenig. Wissenschaftliche Bestrebungen, den Gründen für das Phänomen Stottern auf die Spur zu kommen, finden bis heute noch keinen Konsens. Aktuelle Forschungsergebnisse haben ergeben, dass neurologische Komponenten scheinbar einen wichtigen Anteil am Stottern besitzen. Wie das Stottern im Hirn verankert ist, könnte ein erstaunlicher Fall aus Japan erklären: Ein 66jähriger Patient war nach einem Schlaganfall von seinem lebenslangen Stottern geheilt. Es handelt sich dabei um den ersten Fall, bei dem ein Schlaganfall das Stottern nicht auslöste, sondern beendete. "Ein stotternder Professor in Boston ist auf der Suche nach Stotter-Genen. Die Gene dürften allerdings nur eine von vielen Ursachen für das Stottern sein. Jeder Stotternde ist anders, entsprechend vielschichtig sind die Ursachen", begründet Katz. Stottern kann laut Meichtry zwar nicht vererbt werden, doch die entsprechende Veranlagung könne von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Die Wissenschafter sprechen hier von einem familiären Sprachschwächetypus. "Der Mensch ist kein isoliertes Wesen und reagiert folglich auf verschiedenste Einflüsse wie Überforderungen, Ängste oder negative (Sprach-)Erlebnisse, die auch Stottersymptomen auslösen können", so Meichtry. Ausserdem weiss man, dass alle Anstrengungen von Stotternden, ja nicht zu stottern, zu noch mehr Stotterblöcken führen.
Fleischkeil aus der Zunge geschnitten
Die Bemühungen, Stottern zu therapieren, können bis in die Antike zurückverfolgt werden. Im Laufe der Jahrhunderte erforschten zahlreiche Personen das Phänomen Stottern. Die Forschungen wurden jedoch weder systematisch durchgeführt, noch unterlagen sie im Zeitablauf einer eindeutigen Entwicklung. Das Resultat dieser isolierten und individuell geprägten Forschertätigkeit ist der mangelnde Erfolg aller bis dahin entwickelten therapeutischen Konzepte. Die Methode eines deutschen Chirurgen aus dem Jahre 1842 fällt besonders aus dem Rahmen: Der Chirurg hat einen starken Fleischkeil aus der Zunge herausgeschnitten und dann den Rest der Zungemuskulatur vernäht, um durch diese vorangehende Unterbrechung der Muskelinnervation eine Heilung des Stotterns zu erzielen. Dieses blutige Verfahren erschien zuerst erfolgreich, da die Patienten wegen ihrer Schmerzen nur sehr langsam sprechen konnten. Erst die leidvolle Erfahrung der Betroffenen, dass der chirurgische Eingriff keine Hilfe brachte, führt schliesslich zum Ende derartiger Behandlungen. Um Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Reflexion der vorhandenen Erkenntnisse, um so neue Ansätze für Therapien systematisch zu entwickeln.
Keine schnelle Heilung
Die Anzahl der heute angebotenen Stottertherapien wird auf 250 geschätzt. Vielfach ist die Wahl einer Therapieart oder einer bestimmten Institution vom Zufall abhängig. Leider ist auch dieser Bereich nicht frei von Scharlatanerie, bei der fast immer durch "neuartige" Methoden eine absolute Heilung versprochen wird. Stottern ist jedoch keine Sprechstörung, die schnell behoben werden kann. Es braucht einen grossen zeitlichen Aufwand von Seiten der Betroffenen. Zudem ist Stottern derzeit im medizinischen Sinne nicht heilbar, es kann jedoch viel zu Gunsten einer Normalisierung des Sprechverhaltens unternommen werden. Das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren kann zum Erfolg führen. Die Therapeuten arbeiten meist mit mehrdimenisonalen Behandungsprogrammen, die Atemübungen, Sprechtechniken, sprechrhythmische Übungen, "Nicht-vermeiden-Ansätze" sowie Entspannungstechniken beinhalten. Werden die angewandten Stottertherapien näher betrachtet, so sind lediglich zwei therapeutische Richtungen zu erkennen, die jedoch selten in reiner Form angewendet werden: Bei den symptomorientierten Methoden wird als Ziel flüssiges wenn nicht sogar stotterfreies Sprechen angestrebt. Die "Nicht-vermeiden-Ansätze" dagegen haben die Verbesserung der Situation des Stotternden zum Ziel, indem dieser seine Störung akzeptiert und mit bestimmten Techniken Stotterblockaden überwinden kann. Die erfolgreichsten Therapien stammen meist von Personen, die selber eigene Stottererfahrungen gemacht haben. Sehr verbreitet sind die Methoden von Van Riper, Wendlandt sowie die erweiterte Naturmethode. Daneben sind auch medizinische (Psychopharmaka, Hormonpräparate, usw.), alternative (Autogenes Training, Hypnose, Fernheilung, usw.) sowie psychologische Methoden (Verhaltens-, Gesprächstherapie, usw.) zu nennen, aber nur bedingt oder in Kombination mit einer logopädischen Therapie empfehlenswert. Die VERSTA bietet in ihrer Broschüre sowie im Internet eine Übersicht über die verschiedenen Behandlungsmethoden an.
Wie Nicht-Stotternde reagieren sollten
Nicht nur Therapien können den Stotternden das Leben leichter machen, auch in Selbsthilfegruppen führt das Gespräch über das gemeinsame Leiden zu einer anderen Einstellung gegenüber dem Stottern. "In den Gesprächsgruppen spüren die Betroffenen, dass sie mit ihrem Leiden nicht alleine sind. Das gibt ihnen Mut und Selbstvertrauen. Die Selbsthilfegruppe ist näher beim Alltag als der geschützte Therapieraum", so Meichtry. Die VERSTA organisiert in verschiedenen Regionen der Schweiz solche Gruppen- bzw. Gesprächsabende mit wechselnden Themen. Im Alltag haben Nicht-Stotternde oft Mühe, eine betroffene Person richtig zu behandeln, wenn diese an einem Wort hängt und dabei die Augen zusammenkneift oder den Mund weit öffnet. "Am besten ist es, gegenüber Stotternden gelassen zu reagieren. Schreckreaktionen können die Lage nur noch verschlimmern. Nicht-Stotternde sollen sich auf den Inhalt der Kommunikation konzentrieren, nicht auf die Art und Weise. Stotternde kommen sich als Versager vor, wenn ihnen beim Beenden eines Satzes oder Wortes geholfen wird", informiert Katz. "Nicht-Stotternde müssen sich einfach überlegen, wie sie gerne behandelt werden möchten, wenn sie stottern würden", rät Meichtry. Und am Telefon heisst es, sich in Geduld zu üben, wenn ein Stotternder sich nicht auf Anhieb meldet. Er könnte in einem Stotterblock sein.
Informationen:
Vereinigung für Stotternde und Angehörige (VERSTA), 3775 Lenk. Tel. 033 733 07 31, Fax 033 733 07 30, E-Mail: info@versta.ch, Internet: www.versta.ch