Geistige Beweglichkeit ist das A und O

Dr. Peter Radtke, Schauspieler und Schriftsteller mit Glasknochenkrankheit in einem GEO- Interview über sein Leben

 
Herr Radtke, Sie leiden an Osteogenesis imperfecta, der so genannten Glasknochenkrankheit.
Was ist das?

Peter Radtke: Es ist eine Stoffwechselerkrankung. Das Kollagen, das die Knochenzellen zusammenleimt, arbeitet fehlerhaft. Die Knochen bleiben dünn und sind durchsichtig wie Glas. Daraus ergibt sich eine hohe Knochenbrüchigkeit. Ich wurde bereits mit drei Brüchen geboren. In den ersten Jahren hatte ich mindestens eine Fraktur pro Woche. In der Pubertät lässt das nach.

Wie wurde Ihnen die Krankheit bewusst?

Eigentlich erst durch die Reaktionen der Umwelt. Ich durfte nicht in die Schule gehen, weil die Direktoren Angst hatten, es könnten Knochenbrüche auftreten, für die man sie verantwortlich machen würde. Also haben sie gesagt: Nein, wir nehmen das Kind nicht. Das war ein schwerer Schlag. Ich bin praktisch erst mit 14 Jahren in eine Klassengemeinschaft gekommen. Die zweite Erfahrung war, dass ich Schwierigkeiten hatte, eine Freundin zu finden. Das dritte Problem tauchte auf, als ich eine Arbeit suchte.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich hatte eine sehr behütete Kindheit. Meine Eltern haben mir die Stabilität mitgegeben, mich gegen Widrigkeiten durchzusetzen. Ich bin ein Einzelkind, das unter Erwachsenen gross wurde, und dadurch bin ich zu einem Einzelkämpfer geworden. Das hat seine Vor- und Nachteile. Man ist einsamer, aber man hat auch das Gefühl, selbst etwas unternehmen zu müssen.

Haben Sie je mit Ihrem Schicksal gehadert?

Es gab eine Phase, in der ich auf der Kippe stand. Nach dem Studium war ich anderthalb Jahre arbeitslos. Ich hatte promoviert, magna cum laude, war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, und alles sah nach einer akademischen Karriere aus. Aber jeder Job scheiterte an meiner Behinderung. Ich spürte, wie ich von Monat zu Monat negativer dachte. Ich wurde wütend gegenüber Leuten, die gedankenlos etwas ablehnten, ohne einem eine Chance zu geben. Ich begann, an mir zu zweifeln. War ich vielleicht gar nicht so gut? War mir alles nur nachgeworfen worden? Aufrechter Gang, Optimismus, kommt ja durch Erfolg zustande. Ohne Erfolg verbittert man. Ich hätte damals am liebsten den einen oder anderen die Treppe runtergeschubst, damit er auch mal eine Zeit lang im Rollstuhl sitzen muss und überlegt, was er mir mit seiner Ablehnung antut. Das war die einzige Phase, in der ich mit dem Schicksal gehadert habe.

Haben Sie je daran gedacht, sich operieren zu lassen oder Schienen zu tragen?

Meine Mutter war Krankenschwester und versorgte meine Brüche zu Hause. Ich hatte also das Glück, nicht in die Fänge der Medizin zu geraten. Es gab für mich nur die Alternative: Entweder, du wirfst alles auf die schulische Ausbildung, um später deinen Lebensunterhalt verdienen zu können, oder du wendest dich der medizinischen Rehabilitation zu, was viele Monate Krankenhaus bedeutet hätte. Meine Eltern haben sich damals – glücklicherweise – für den ersten Weg entschieden, weil sie gesagt haben, ob seine Knochen nun ein bisschen gerader sind oder nicht, das spielt keine Rolle, und mit dem Rollstuhl ist er vermutlich schneller, als wenn er grotesk umeinander hampelt.

Insofern sind mir viele Schmerzen und psychische Traumata erspart geblieben, die mit einem Krankenhausaufenthalt verbunden gewesen wären. Ich denke, dass es viel zu meiner Stabilität beigetragen hat, dass ich nie das Gefühl hatte, ein medizinisches Objekt zu sein. Tun Sie etwas, um Verschlechterungen aufzuhalten?Ich muss zugeben, ich habe ein wenig geschlampt und präventive Massnahmen zu lange negiert. Sie sehen ja, ich habe einen Luftröhrenschnitt. Das Atemvolumen in der Nacht reichte nicht mehr aus, um mich erholen zu können. Ich hätte eine Maskenbeatmung gebraucht, um die Lunge zu entlasten. Aber ich habe es ignoriert, und irgendwann klappte ich zusammen. Ich bekam dann diesen Luftröhrenschnitt, der sehr schwierig war, weil die Luftröhre bei mir – wie vieles andere – verbogen ist. Bei der Operation stand es Spitz auf Knopf. Die Ärzte sagten: Wenn wir noch mal rein müssen, können wir nicht garantieren, dass Sie es überleben. Also haben sie die Kanüle gleich drin gelassen. Aber Sie sehen: Ich lebe. Was wäre, wenn eine Therapie der Glasknochenkrankheit in absehbarer Zeit durch Chromosomen- reparatur möglich wäre? Beschäftigt Sie das?Natürlich. Aber sehen Sie, das Gespräch, das wir gerade führen, würden wir nicht führen, wenn ich keine Behinderung hätte. Ich würde ganz andere Auffassungen haben. Ich würde vielleicht der Sportler par excellence sein, der nur an Jogging und Ähnliches denkt. Dass Sie mich sprechen wollen, liegt daran, dass ich so bin, wie ich bin. Fast alle Kinder mit Glasknochenkrankheit sind heitere Wesen, sehr mobil, ganz im Gegensatz zum Krankheitsbild, das nach Schonung verlangt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dieses heitere Wesen mit der Behinderung zusammenhängt. Ich habe mal gesagt: Vermutlich liegt es daran, dass diese Kinder nicht so schnell verkalken. Aber Scherz beiseite. Wenn sie die Knochenfehlbildung wegtherapieren, therapieren sie auch den dazu gehörenden Charakter weg. Muss man sich selbst gegenüber besonders schonungslos sein, um mit den Einschränkungen fertig zu werden?Dass jemand mit einer schweren Behinderung mehr leisten und mehr arbeiten muss, um dasselbe zu erreichen wie ein so genannter Nichtbehinderter, steht ausser Zweifel. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Ich bin der Auffassung, dass es nicht auf die Länge eines Lebens ankommt, sondern auf das, was in dieser Zeit gemacht wird.Sie haben das scheinbar Unmögliche gewagt und sind Schauspieler geworden. Ich habe zunächst in einer Laienspielgruppe, die mein Vater geleitet hat, den Souffleur gemacht, wofür ich sehr geeignet war, denn man konnte mich bequem unters Bett schieben oder hinter eine Kommode setzen. Als ich dann das Behindertenreferat aufbaute, habe ich Kurse angeboten, die auch mich selber interessierten. Dazu gehörte eine Theatergruppe. Ich habe ein Stück geschrieben – „Nachricht vom Grottenolm“ –, das in einem Wettbewerb des Deutschen Schriftstellerverbands und der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“ den 1. Preis gewann. Der Durchbruch kam dann bei den Münchner Kammerspielen. George Tabori suchte ein behindertes Kind für eine Rolle, und weil er keins fand, wollte er, dass ich die Rolle spiele. In den Medien gab es einen Aufschrei. Die „Stuttgarter Zeitung“ schrieb: „Das Theater darf viel – das darf es nicht.“ Ein Reporter meinte: Ein schönes Experiment, aber es darf nur einmal gemacht werden. Da hab ich gedacht: Euch werd’ ichs zeigen! Was war Ihre wichtigste Rolle?Vom Erfolg her sicher Kafkas „Bericht für eine Akademie“. Als ich das hundert Mal gespielt hatte, sagte ich dem Intendanten: Ich will nicht der Affe vom Dienst werden – ich möchte eine andere Rolle.

Muss man sich immer neue Ziele setzen, um über die nachlassenden körperlichen Fähigkeiten hinweggehen zu können?

Ja. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem man sich noch mal entscheiden kann: Entweder lässt man es langsam ausklingen, oder man sucht eine letzte Herausforderung. Ich denke, das hat etwas mit dem aufrechten Gang zu tun. Solange du Pläne schmiedest, trägst du deinen Kopf oben. Ich versuche derzeit, zusammen mit der Akademie für darstellende Kunst in Ulm, einen Lehrgang für Menschen mit Körperbehinderung ins Leben zu rufen. Da habe ich das Gefühl, dass ich das, was ich für mich erreicht habe, an andere weitergeben kann.

Kann man mangelnde körperliche Beweglichkeit durch geistige Beweglichkeit ausgleichen?

Die geistige Beweglichkeit ist das A und O für die Verlangsamung des Alterungsprozesses. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass sich viele Schauspieler im Alter fit halten, indem sie Rollentexte lernen. Dadurch trainieren sie ihre gesamte Konstitution. Meine Theaterarbeit ist allerdings auch körperliche Arbeit gewesen, und ich habe den Eindruck, dass mir dieses Training gut getan hat.

Das beste Training scheint zu sein, körperliche Probleme nicht so wichtig zu nehmen?

Sie nicht zu überschätzen! Das mag sich jetzt pathetisch anhören, aber ich denke, man muss dem Schmerz einen Sinn geben. Als ich mit dem Luftröhrenschnitt im Krankenhaus lag, schwebte ich anfangs zwischen Halluzinationen und Wachsein. In den Phasen, in denen ich helle war, habe ich mir überlegt: Willst du das, oder findest du nicht, dass es besser wäre, dich abschalten zu lassen? Ich bin ja ein strikter Gegner von aktiver Sterbehilfe. Aber wenn du selbst in so einer Situation bist, dann überlegst du noch mal. Da habe ich mir gesagt: Ich glaube fest daran, dass auch diese Situation einen Sinn hat. Sinnsuche ist etwas, das dich sogar noch in der Horizontalen aufrecht hält.

Das kommt einer religiösen Haltung sehr nahe.

Wir haben wenig Einfluss darauf, welche Haltung zum Leben wir mitbekommen. Ich kenne Menschen mit einer Behinderung, die wesentlich weniger schwerwiegend ist als meine, die aber mit ihrem Schicksal nicht fertig werden. Ich habe als Kind über 100 schmerzhafte Knochenbrüche erlebt, und habe das Gefühl, eine unheimlich glückliche Kindheit verlebt zu haben.

Haben Sie eine Lebensmaxime, die Ihnen Halt gibt?

Der Dichter Paul Claudel stellt seinem Stück „Der seidene Schuh“ das Motto voran: „Gott schreibt auf krummen Zeilen gerade.“ Das heisst, wir werden geführt, von wo auch immer.

Religion als Therapie?

Ich denke, dass eine religiöse Bindung eine Stütze sein kann, das eigene Schicksal besser in den Griff zu bekommen. Die Gebundenheit an etwas, das ausserhalb von uns selbst liegt, hält uns aufrecht. Es hilft uns, über unseren eigenen kleinen Horizont hinauszugehen.

 

Interview: Wolfgang Michal; GEO 02, Februar 2004